Bevor ein Pendel umschwingt, hält es inne.

Könnte das bedeuten, dass wir vor einer Tourismuswende, hin zu mehr Nachhaltigkeit stehen? Oder ist es vielmehr die Ruhe vor dem Rückschritt zum Dogma der schnellen Profite, koste es was es wolle? Ich sage: Wir haben es in der Hand.

Erst „Overtourism“, jetzt „zero tourism“, und dann …?

Eigentlich könnte man sich schon fast befreit fühlen von der seit Jahren immer wieder aufs Neue aufkeimenden Diskussion um den viel zitierten „Overtourism“. Auch ich habe mich mit dem Begriff und dem dahinterliegenden Phänomen intensiv beschäftigt und über die Jahre auch einiges an Erkenntnissen dazugewonnen, die meine Arbeit prägen. Ich bin seit jeher eine Verfechterin einer Obergrenze für Gäste. Doch das erscheint plötzlich irrelevant, denn mit einem Schlag ging es vom „Overtourism“ zu „zero tourism“. Alles zu, rien ne va plus, und jetzt?

Seit dem Lockdown, verfolge ich die vielerorts aufpoppenden Stimmen aus der Tourismusbranche mit großem Interesse. Zweifellos ist Tourismus der von der Pandemie und ihren Folgen am stärksten betroffene Wirtschaftszweig. Da sind sich alle einig. Doch sollte es nicht gerade jetzt besonders deutlich werden, dass Tourismus so viel mehr ist als ein Wirtschaftszweig?

In den sozialen Medien wimmelt es geradezu von Posts zum Thema Reisen. Die Sehnsucht draußen zu sein und die Welt jenseits des täglichen Umkreises zu entdecken ist groß. Besonders jetzt, wo dieser Umkreis für viele extrem eingeschränkt ist. Man sehnt sich nach dem Meer, den Bergen, nach Freiheit, Verbundenheit anderen Menschen und Sorglosigkeit. Für all das steht der nachhaltige Tourismus.

Bei meinen Beobachtungen ist mir vor allem eines aufgefallen:die Rettung der Nachhaltigkeit wird mit keinem Wort erwähnt, und das macht mir große Sorgen.

Worst-Case-Szenario für den nachhaltigen Tourismus

Mein persönliches Worst-Case-Szenario sieht so aus: All die kleinen, feinen und vor allem nachhaltigen Reiseveranstalter*innen, Reisebüros und Initiativen fallen den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise zum Opfer. Als Einzelunternehmer*innen und KMUs in einem Preissegment in dem Dumping keinen Platz hat, spüren sie die ausbleibenden Buchungen zuerst, haben aber keinen Finanzpolster oder Rückhalt durch große Mutterkonzerne.

Sobald das Reisen also wieder möglich ist, werden die Großen das Ruder übernehmen. Ausgehungerte Destinationen – und das meine ich hier wirklich wörtlich – sind leichte Opfer für Preisdumping, denn nur wenn die Betten voll sind, bleibt vermeintlich genug für alle übrig. Dazu kommt noch der doppelte Leakage-Effekt, d.h. zusätzlich dazu, dass die Profite aus dem Tourismus zu einem Großteil ins Ausland fließen, kommen die, im Idealfall vom Staat, geschnürten Hilfspakete in den Destinationen nur all jenen zugute, die im Besitz von Hotel- und Clubanlagen sind. Das sind hauptsächlich internationale Gruppen und ausländische Investoren. Und selbst wenn die wenigen inländischen Player davon profitieren, so bleibt am Ende nichts für die wenigen einheimischen Angestellten übrig, die sich vielerorts weder auf starke Gewerkschaften noch auf ein klares Arbeitsrecht berufen können. Dazu kommt, dass es auch im Tourismus in vielen Destinationen einen hohen Prozentsatz an informell (also schwarz) Beschäftigten und Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen gibt. Und auch die vielen Unternehmer*innen und Unternehmen wie Souvenirverkäufer*innen und Straßenhändler, die dem Tourismus folgen und ganz unabhängig von den Großen ihr Auskommen in dem suchen, was vom Tagesbudget der Gäste abfällt, kommen hier nicht zum Zug.

Aus menschenrechtlicher Sicht ist dieses Szenario doppelt bitter, denn die einheimischen Bevölkerungen leiden in jedem Fall. Kommen keine Touristen, fehlt das Einkommen. Kommen wieder Touristen, müssen die Gäste alles dürfen, damit sie für ausreichend Einkommen sorgen. Der Maslov‘schen Pyramide folgend, sind also all jene Stimmen für mehr Nachhaltigkeit verloren, die ums nackte Überleben kämpfen, ganz egal wie und wo. Und wer bleibt dann noch übrig?

Wir brauchen eine starke Stimme für die Nachhaltigkeit

Ich fürchte um all die starken Stimmen und Persönlichkeiten, die der Nachhaltigkeit im Tourismus mit ihren Unternehmungen Leben einhauchen. Aus Erfahrung kann ich sagen, dass das es eine Lebensaufgabe ist, für die man Feuer braucht. Im Tourismus ist man auch in unseren Breiten nicht aus Liebe zum Geld tätig, sondern aus anderen Gründen. Dazu zählen die Liebe zu den Menschen – besonders den Gästen – und zur Natur, Neugierde auf das Fremde und ein Wunsch nach Verbundenheit mit Menschen und Regionen überall auf der Welt. Und was man mit Liebe tut, wird nachhaltig sein, weil es andauern soll.

Was dem nachhaltigen Tourismus aber immer ein Stück weit gefehlt hat, das wird gerade jetzt besonders deutlich, ist der derzeit viel zitierte Schulterschluss. Über die Jahre habe ich viele engagierte Menschen kennen lernen dürfen, dich sich mit voller Energie und ganzem Herzen für die Nachhaltigkeit im Tourismus einsetzen. Darunter auch viele Einzelkämpfer*innen die als Leuchtturmbeispiele die Bürde einer ganzen Branche auf ihren Schultern tragen. Leider werden es gerade sie sein, deren Stimmen wir in der Krise verlieren, denn sie sind zwar stark, aber auch stark betroffen und allein nicht laut genug.

Ich plädiere dafür, dass wir, die starken Stimmen für die Nachhaltigkeit im Tourismus, uns ganz bewusst in der gemeinsamen Sorge um die Nachhaltigkeit finden. Es ist nämlich völlig berechtigt und in Ordnung in einer Situation wie dieser, die völlig neu und noch nie dagewesen ist, Angst zu haben. Existenzangst. Angst um unsere Unternehmen und berufliche Zukunft. Angst um unsere Destinationen und unsere Partner*innen. Angst um den Tourismus und unsere Gesellschaft als Ganzes. Wir sind aber nicht hilflos ausgeliefert, sondern können jetzt aktiv einen Beitrag zur notwendigen Tourismuswende hin zu mehr Nachhaltigkeit leisten.

Lockdown als Chance umzudenken

Am lautesten ist verständlicherweise gerade die Stimme der Existenzangst. Laut sind auch die Rufe nach staatlicher Unterstützung des Sektors, die es sicherlich brauchen wird. Lauter werden zum Glück auch die Aufrufe zur Solidarität á la „Wer Reisen liebt, verschiebt“ und Anregungen zum Kauf von Reisegutscheinen für die Zeit nach den Reiseeinschränkungen. Dazu gibt es auch schon entsprechende Initiativen, bei denen sich Reiseveranstalter und Reisebüros gemeinsam zu Wort melden. All das finde ich gut und richtig.

Was aber völlig fehlt, sind die Aufrufe zu mehr Nachhaltigkeit.Und wer jetzt argumentiert, dass die Nachhaltigkeit eben ein Luxus ist, den wir uns gerade jetzt nicht leisten können, trägt direkt und indirekt dazu bei, dass mein Worst-Case-SzenarioWirklichkeit wird. Gerade jetzt braucht es die Nachhaltigkeit im Tourismus mehr denn je. Wenn wir dieser Krise tatsächlich etwas abgewinnen wollen, dann müssen wir jetzt dafür sorgen, dass wir gemeinsam eine starke Stimme für die Nachhaltigkeit haben, und zwar jenseits des eigenen Existenzkampfes und der kurzfristigen Lösungen für schnellen Profit danach.

Basis dafür muss ein tiefes Verständnis für den Tourismus und seine Rolle als weltweites Bindeglied zwischen Menschen, Natur und Wirtschaft sein. Wir haben jetzt die einmalige Chance den gesamten Tourismus quasi in Vollnarkose zu untersuchen und uns in eine ganze Branche hinein zu fühlen. Wie bei einem medizinischen Scan wird plötzlich jede Ader und Verbindung sichtbar, die gesunden und diejenigen die Schmerzen verursachen.

Die tiefe Verwurzelung des Tourismus in der Weltwirtschaft ist gerade schmerzhaft spürbar. Da liegt es nahe, rasch nach Wegen zu suchen, die so schnell wie möglich den status quovor dem Lockdownwieder herstellen. Doch muss das wirklich sein? Oder tut die getrennte Verbindung zwar kurzfristig weh, gibt uns aber die Chance unsere Beziehungen zu prüfen und neu zu knüpfen? Ein Pendel hält auch immer kurz an, bevor es in die andere Richtung schwingt.

Ein neues Bewusstsein: Conscious Tourism

Was es braucht, ist ein neues Bewusstsein für den Tourismus und für die Rolle des Tourismus in der Welt, sowohl als weltweit größter Wirtschaftssektor als auch als größtes Netzwerk und beziehungsfähiges Ökosystem. Und es braucht ein starkes Gefühl dafür, wie wir die Branche nach dem Neustart gestalten möchten. Dieses neue Bewusstsein muss über die Grenzen des bisherigen Nachhaltigkeitsverständnisses hinausgehen. Es muss tiefer gehen und bis in die kleineste Verzweigung spürbar sein. Genauso und bis dahin, wo wir jetzt gerade die schmerzhaften Auswirkungen des Shutdowns und des „zero tourism“ spüren.

Mein Ziel ist es, diese Kraft – unsere Kraft – im Sinne des SDG #17: Partnerschaften zur Erreichung der Entwicklungsziele, zu bündeln, und sie als starke Stimme deutlich hörbar zu machen. Ich lade euch alle sehr herzlich ein dabei zu sein und mitzugestalten, neue Arten von Beziehungen zu knüpfen und unsere Fühler überall dahin auszustrecken, wo es gerade weh tut.

Ich kann euch keine fertigen Lösungen anbieten, die hat gerade niemand. Aber ich kann euch anbieten, dass wir gemeinsam daran arbeiten. Dafür kann ich uns im ersten Schritt vernetzen. Wenn du dich für bewussten, nachhaltigen Tourismus z.B. als Reiseveranstalter, Reisebüro, Reiseleiter*in, Hotelier, Gastronom*in, Landwirt*in, Bürgerinitiative, Interessensvertretung, Studierende, Ökologin etc. engagierst, dann melde dich bitte bei mir unter kerstin.dohnal@destination-development.org , und ich nehme Kontakt mit dir auf.

Mehr über meine neue Initiative Conscious Tourism erfährst du hier. Let’s create a world of tourism that makes a difference!

Kerstin Dohnal

Kerstin Dohnal

Ich liebe es die Welt zu entdecken. Das Paradigma des Tourismus als Industrie bedeutet für mich das exakte Gegenteil davon. Darum ist mir die Tourismuswende basierend auf Menschenrechten, Offenheit und dem Prinzip der Verbundenheit als Menschen untereinander und mit unserer Umwelt ein persönliches Anliegen.

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